Das Gedächtnis der Gefühle

„Das Problem ist die Herausforderung um zu sehen, ob ich es auch ernst meine mit meinem Ziel.“ Dieser schlaue Satz stammt von Mentaltrainer Matthias Vette, dessen Vortrag ich am vergangenen Montag im Rahmen der ISPO in München gehört habe. Es war der richtige Einstieg in eine Woche, die mich tatsächlich vor ein Problem bzw. eine Herausforderung stellen würde. Die Rede ist von einem Trainingslauf, der mich drei Tage später erwartete: Fünfmal drei Kilometer an der aeroben Schwelle. Ein klassisches Marathontraining, das ich bereits kannte. Und genau da lag das Problem.

Es muss fast auf den Tag genau vor zwei Jahren gewesen sein. Ich steckte in der Vorbereitung auf den Wien Marathon und hatte sie an einem kalten Wintertag auf dem Plan stehen: Fünfmal drei. Schon beim ersten Kilometer kam ich nicht auf die vorgegebene Pace. Der zweite war noch langsamer, der dritte ebenso. Eine zweite Serie versuchte ich noch, doch als mir schwarz vor Augen wurde, war Schluss. Abbruch. Schlechter Tag, kann ja mal vorkommen. Also zwei oder drei Tage später wider die Vernunft dasselbe Spiel. Die ersten drei klappten mit Ach und Krach. Aus den zweiten drei wurden zwei und schließlich nur noch jeweils einer mit Steh- und Gehpausen dazwischen. Es war der Anfang vom Ende. Statt dem Wien Marathon folgte ein Untersuchungsmarathon. Die restliche Geschichte dazu gibt es hier nachzulesen.

Was wir uns merken

Gut eineinhalb Jahre später, wieder topfit und mitten in der Vorbereitung auf Valencia waren sie wieder da: fünfmal drei Kilometer. Uff. Ich musste erstmal schlucken. Sofort waren die Erinnerungen vom ersten Versuch wieder da. Ein mulmiges Gefühl, dass mich alleine beim Lesen des Trainingsplans überkam. Bilder machten sich in meinem Kopf breit: Das Zuschnüren der Kehle. Das Ringen nach Luft. Die Atemnot, die jeden Schritt unendlich mühsam machte. Damit tauchte auch unausweichlich die Frage auf: Wird es wieder so wie damals?

Ich schob die Zweifel ins hinterste Eck meines Gehirns und stellte mich der Herausforderung. Doch es trat alles genauso ein, wie ich es mir so ganz und gar nicht gewünscht hatte: Abbruch bei der zweiten Serie. Obwohl das Training für Valencia extrem gut lief, war an dem Tag irgendwie der Hund drinnen. Ich kam auf keine Geschwindigkeit. War gut 20 Sekunden über Soll, vom Feeling jedoch mindestens 20 Sekunden unter Soll. Ich fühlte mich an dem Tag einfach nur mies, irgendwie leicht kränklich. War es das? Oder waren es doch die Erinnerungen und damit verbunden die Angst wieder so etwas zu erleben? Stichwort selbsterfüllende Prophezeiung? Ich weiß es bis heute nicht.

Warum waren diese Erinnerungen eigentlich noch immer so präsent, als wäre es gestern gewesen? Psychologen sprechen vom emotionalen Gedächtnis. Demnach speichert unser Gehirn nicht nur faktenbasierte Informationen, sondern auch Ereignisse aus unserem Leben, die sehr eng mit Emotionen verknüpft sind. Als ich einmal eine Reportage in einem Kindergarten gemacht habe, fühlte ich mich plötzlich wie von Scotty aus Raumschiff Enterprise wieder in meinen Kindergarten zurückgebeamt. Es war der Geruch, der mich schlagartig in eine Fünfjährige zurückverwandelte.

Aber zurück zum Laufen. Auch das Erlebnis mit den fünfmal drei Kilometern hatte so starke Gefühle damals ausgelöst, dass es jetzt nur einen Blick auf den Trainingsplan brauchte, damit die Bilder sofort wieder vor meinem geistigen Auge auftauchten. Aber was dagegen tun?

„Der Mensch handelt danach, wovon er überzeugt ist.“ Auch diesen schlauen Satz von Vette habe ich am vergangenen Montag in meinem Gehirn abgespeichert. Mein Problem war klar: Ich hatte diese Woche diesen extrem negativ besetzen Lauf am Plan. Meine Herausforderung: endlich die Negativspirale durchbrechen. Klares Ziel: Durchziehen.

Mitmachen und neu abspeichern

„Es zu wollen und es zu tun, ist die Grundlage für Veränderung.“ Noch ein schlauer Satz von Matthias Vette, der meinen dritten Versuch der Bammel-Einheit treffsicher beschreibt. Ich wollte, auch wenn mein Puls schon beim Einschalten der Uhr auf knapp 130 war. Und tat. Lief los und siehe da: es klappte bei der ersten Serie. Und bei der zweiten und auch noch bei der letzten. Als ich nach 23 Kilometern die Uhr abdrückte und endlich stehenbleiben konnte, war ich stolz. Ich hatte es geschafft. Im dritten Anlauf hatte ich die fünfmal-drei-Hürde gemeistert.

Die Wissenschaft besagt, dass die Erlebnisse im emotionalen Gedächtnis jedes Mal, wenn sie wieder ausgelöst werden, neu abgespeichert werden. Es besteht also die Möglichkeit ein altes, emotional negativ besetztes Erlebnis zu überschreiben. Das ist mir an diesem Donnerstag gelungen. Ich hatte es geschafft, mich voll und ganz aufs Laufen zu konzentrieren und die anfangs negativen Gefühle von damals auszublenden. Mit jedem schnellen Kilometer verblasste mehr und mehr die Erinnerung.

„Das Leben ist zum Mitmachen da, nicht zum Zuschauen“, hat Kathrine Switzer gesagt. Nur durchs Mitmachen besteht die Chance Negatives durch Positives zu ersetzen. Durchs Mitmachen beim Berlin Marathon im vergangenen Jahr wurde das Amsterdam-Desaster erfolgreich in meinem emotionalen Gedächtnis überschrieben. „Das Problem ist die Herausforderung um zu sehen, ob ich es auch wirklich ernst meine mit meinem Ziel“, sagt der Mentaltrainer. Egal ob fünfmal drei im Training, sich wieder einen Marathon zutrauen oder überhaupt wieder ins Laufen kommen  – das (Läufer)Leben ohne Herausforderungen wäre langweilig. Dafür braucht es aber auch Ziele. Denn „ohne Ziel ist jeder Weg richtig“ um wieder mit Matthias Vette abzuschließen. Und wo bleibt da dann die Herausforderung?

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