Erntezeit mit Dankbarkeit beim Valencia Marathon

„Alles, alles Gute. Du machst das. Es wird gut gehen.“ Als mich mit diesen Worten mein Freund ein letztes Mal umarmt, kommen mir die Tränen. Ich kann nichts dagegen tun. Bei einem Marathon gehen die Gefühle immer mit mir durch. Dabei muss ich gar nicht selbst am Start stehen. Zeig mir einen Zieleinlauf und es gibt kein Halten mehr. Ich brauche keine Liebesschnulze um nach den Taschentüchern zu greifen. Die Emotionen der Finisher und vor allem Finisherinnen springen automatisch auf mich über. Noch heute kann ich mich an den Zieleinlauf von Shalane Flanagan beim New York Marathon 2017 erinnern. Ihr Kämpfen auf den letzten paar hundert Metern, ihre Freude und ihre Tränen – ich konnte nicht anders und habe mitgeheult.

An diesem Sonntag, dem 2. Dezember, geht es mir nicht viel anders. Mit einem Unterschied: Ich liege nicht zuhause auf der Couch, sondern stehe in der sogenannten Stadt der Künste und der Wissenschaften – spanisch Ciudad de las Artes y de las Ciencias – dem Start- und Zielgelände des Valencia Marathon. Ich wische mir die Tränchen aus dem Gesicht und merke erst jetzt, dass wir fotografiert werden. Eine heulende Marathonläuferin vor dem Start. Toll. Doch nicht falsch verstehen. Es sind die positiven Emotionen, die da mit mir durchgehen. Es war ein sehr schwieriges Jahr für mich und ich bin unendlich dankbar darüber, was sich in den vergangenen Wochen getan hat. Das Jahr 2018 hat ein Happy End bekommen. Der Marathon hier und heute ist das Tüpfelchen auf dem i, bei dem ich mein Bestes geben will.

Selbstvertrauen

„Du bist super drauf. Wenn du einen guten Tag hast, brauche ich gar nicht nachdenken, dass es nicht klappen könnte. Und wenn du einen schlechten Tag erwischt, werden es halt 3:48. Ist auch nichts dabei.“ Mein Trainer hat mir genau eine Woche vorm Marathon diese Worte mitgegeben. Nichts anderes habe ich von meinem Freund zu hören bekommen. Niemand kennt meine wahre körperliche Verfassung besser als die beiden und auch ich wusste durchs Training, dass alle Vorzeichen auf Bestzeit stehen. Dennoch war im Hinterkopf: aber was, wenn? Wer einmal einen Marathon abbrechen musste in dem Glauben, dass jeden Moment das Herz zu schlagen aufhören könnte und man bewusstlos zusammenbricht, bekommt dieses Gefühl so schnell nicht mehr weg. Auch wenn medizinisch gesehen schon lange wieder alles im Lot ist. Und auch wenn ich und mein Umfeld überzeugt sind, dass ich super drauf bin.

Das Training lief gut, ja. Um nicht zu sagen sehr gut. Die Formkurve ging seit dem Sommer steil nach oben. Ein Trainingslauf nach dem anderen wurde getoppt. Dann kam Berlin. Der Marathon, der mir für Valencia die nötige Sicherheit geben sollte. Gleichmäßiges Wohlfühltempo war am 16. September angesagt, um die Gewissheit zu haben: Du kannst es noch! „Last-minute-Ticket zum Mir-selbst-Vertrauen“ habe ich damals getitelt. Es hat geklappt. Nach 3:52:24 war ich im Ziel. Doch ein Marathon auf Anschlag ist nochmals eine andere Kategorie. Eine ganz andere.

Elf Wochen waren es ab Berlin noch bis Valencia. Klingt viel, war es dann bei genauerem Hinsehen aber nicht: Nach dem Selbstvertrauen-Marathon war zwei Wochen Schongang angesagt, zwei Wochen vor Valencia tapern. Macht in Summe sieben relevante Trainingswochen, dazwischen noch eine Regenerationswoche. Die Zeit verging wie im Flug. Das Training wurde spezifischer und dementsprechend härter. Der Halbmarathon im Piestingtal und die anderen Erfolge im Training stärkten mein Selbstvertrauen. Bis zu diesem einen Tag im November. Es war der 18., um genau zu sein. Der letzte lange Lauf bis zur kompletten Selbstzerstörung stand am Plan: 20 Kilometer Grundlage plus 15 Kilometer geplante Marathonpace. Uff. Zwei Tage davor gab’s feine 28 Kilometer Wechseltempo, am Samstag ein easy Läufchen und am Sonntag war es schließlich soweit: quasi die Generalprobe für Valencia.

Versus Zweifel

„Sehr stark, das war schon sehr gut“, lautete das Fazit meines Trainers. Hä? Das war sehr gut? Ich hatte den Lauf einigermaßen hinbekommen, vom Feeling war’s jedoch alles andere als gut. Als ich nach den 35 Kilometern die Stopptaste meiner Uhr drückte, zitterten meine Beine. Und das von Anfang an plus sieben Kilometer mehr?! WIE SOLL DAS GEHEN???!!! Mein Selbstvertrauen war nach diesem Lauf im Keller. Hatte die Hochform schon vorab angeklopft und sich nun wieder verabschiedet? Ich war einfach nur noch müde. „Das ist normal beim Tapern“, versuchte mich mein Freund zu beruhigen. Naja.

Vier Tage vorm großen Tag standen nochmals unter anderem fünf Kilometer im geplanten Marathontempo – sprich 5:20 – am Plan. Es hatte um die null Grad und eisiger Wind wehte mir in der Hauptallee um die Ohren. Fünf Kilometer. „Wenn sich das heute scheiße anfühlt, kannst es eh vergessen“, dachte ich mir. Es fühlte sich nicht scheiße an. Aber auch nicht wirklich super locker. Wieder die Frage: WIE SOLL DAS GEHEN??!! Aufmerksame Leser wissen: mit Selbstvertrauen – ich bin Superwoman – hab ich’s nicht so.

Der große Tag

8:15 Uhr. 15 Minuten vorm offiziellen Start. Meine Tränchen sind getrocknet, ich bin aufgeregt und mache mich nun auf den Weg zu meinem Startblock. Entgegen bisheriger Erfahrungen ist hier in Spanien alles ein bisschen entspannter. Der Block ist um diese Zeit nur zu ca. einem Viertel gefüllt. Erst jetzt beginnen sich die Massen neben mir außerhalb des Zauns in Richtung Eingang zu bewegen. Demensprechend wird es die nächsten Minuten immer voller.

8:30 Uhr. Der offizielle Startschuss. Auf den Zehenspitzen erkenne ich, dass sich die Masse vor mir langsam in Bewegung setzt. Mit dem Marathon startet zeitgleich auch der 10km-Lauf. Die Streckenführung ist von Beginn an getrennt, sodass sich auf meiner Strecke nur die Marathonis bewegen werden. Ein unnötiges Zickzack durch 10er-Sprinter bleibt somit aus. Angenehm. 22.000 Anmeldungen gab es für den Marathon, 8500 für den 10er. Soviel zu den offiziellen Zahlen. Langsam aber sicher kommen wir ins Gehen. Ein Läufer neben mir hat seine rechte Hand auf sein Herz gelegt, die Augen geschlossen. Er erinnert mich an Fußballer vorm Anpfiff. Ein letztes Stoßgebet?

Wow! Obwohl mir die Sonne ins Gesicht knallt und es schon um diese Uhrzeit ziemlich warm ist, ziehe ich mit einem Mal Gänsehaut auf. Eine Polizeieskorte fährt auf der anderen Straßenseite an uns vorbei. Dahinter das Führungsfahrzeug das der Elite den Weg weist. So schnell können wir sie gar nicht beklatschen, sind sie auch schon wieder vorbei. Ich bin irgendwo bei Kilometer 8. Schon bald ist die 10km-Tafel in Sichtweite. Meine Uhr piepst mittlerweile immer früher. Um wieder mit den Tafeln gleichauf zu sein, drücke ich die Laptaste. Doch Fehlanzeige. Schon zwei Kilometer später dasselbe Spiel. Uhr voraus. Mittlerweile ist es mir egal. Wie war das? Einen Marathon muss man nach Gefühl laufen. Genau das mache ich ab sofort. Dass ich ein gutes Tempogefühl habe, weiß ich. Die ersten 10 waren zum kontrollierten Laufen, zum Eingewöhnen. Jetzt geht’s ums Feeling. Also wozu ständig auf die Uhr glotzen?! Weiter so und alles wird gut.

Kilometer 18. Schon von Weitem sehe ich meinen Freund bei der Tafel stehen. Es ist der erste Treffpunkt, den wir vereinbart haben. Als ich vorbeilaufe grinse ich, klatsche mit ihm ab. Ich fühle mich großartig und muss mich zügeln, nicht schneller zu werden. Denn: Ein Marathon wird bekanntlich nicht auf der ersten Hälfte gewonnen.

Gut in der Zeit zur Halbzeit

Halbmarathon. 1:51:56 zeigt die Uhr. Oh wow, ich liege ja sehr gut in der Zeit. Ich rechne und merke, dass sich derzeit sogar eine Zeit unter 3:45 ausgehen würde. „Die erste Hälfte eines Marathons muss sich leicht anfühlen“, rufe ich mir eine alte Trainingsweisheit in Erinnerung. Yes. Das tut es! Ich fühle mich topfit und weiß, je näher das Ziel rückt, desto stärker werde ich im Kopf. Bisher hatte ich bei all meinen Marathons, die ich auf Zeit gelaufen bin, einen Negativsplit geschafft. Wird es heute auch so sein? „So, jetzt gemma’s an!“, lasse ich in Gedanken die Zügel los und klopfe mir auf die Oberschenkel.

Die Stimmung um mich herum treibt mich an. Was ich bei allen Läufen so liebe: Trommler. Und die sind in Valencia besonders häufig anzutreffen. Es gibt zwar auch DJs, Tänzerinnen und Bands, aber Trommler sind mit Abstand DIE Stimmungsmacher beim schnellsten Marathon Spaniens.

Kilometer 26. Mein Freund hält mir eine Wasserflasche hin. Ich schnappe sie mir und bin auch schon wieder weg. Im Nachhinein meinte er dann nur: „Bei Kilometer 18 hast noch voll super ausgeschaut, bei 26 dann nicht mehr so. Ich habe nur noch gehofft, dass sich das Maxerl am Tracker weiterhin bewegt.“ Hat es.

Es ist sehr warm. In Wien hatten wir um die null Grad, in Valencia sind es rund 20 Grad mehr. Ich trinke ein paar Schluck und schütte mir den Rest des Wassers über den Kopf. So geht es in meine mental schwierigste Phase. Kilometer 26 bis 30 habe ich mit mir zu kämpfen. Ich merke, dass ich etwas langsamer werde. Die eingestellte Anzeige auf meiner Uhr zeigt neben der Rundenpace auch die Durchschnittspace. Diese war lange Zeit auf 5:16, beim Halben auf 5:15 und ist jetzt wieder auf 5:16. Passt eh. Nachdem ich aber ein paar Meter hinterher hinke bzw. voraus bin, stimmt sie natürlich nicht auf die Sekunde genau. Egal. Solange ich nicht komplett eingehe, ist alles gut. Ich bin auf Kurs.

Selbstmotivation

„Erntedank.“ Immer wieder rufe ich mir dieses Schlagwort ins Gedächtnis. Ich hatte es mir im Vorhinein überlegt. Es sollte mir durch schwierige Phasen helfen. Heute ist Erntedank. Die Ernte für all die Trainings sollte heute einfahren werden. Dazu der Dank. Ich bin in vielerlei Hinsicht dankbar. Für ein Happy End 2018. Was morgen ist, kann niemand sagen. Aber im Hier und Jetzt, heute, ist nach langer Zeit alles gut. Dankbarkeit auch dafür, dass ich körperlich wieder topfit bin und ich an meine alte Form von 2016 anknüpfen konnte. Und ich bin dankbar für eine Veränderung, die 2019 ansteht. Es gibt ein zweites Schlagwort, das mich mit ungeheurer positiver Energie Richtung Ziel ziehen soll. Bevor hier Gerüchte entstehen – nein, ich bin nicht schwanger.

Mittlerweile sind wir in der Altstadt angekommen. Das spanische Temperament ist an jeder Ecke zu spüren. Generell hat Valencia für Läufer viel übrig. Als wir beim Abendessen am Samstag mit dem Kellner plauderten, der zwar kein Wort Englisch sprach, aber wir uns dennoch irgendwie verständigen konnten und er schließlich über mein Teilnehmerbändchen erfahren hat, dass ich den Marathon laufe, konnte er es gar nicht fassen. Er nahm meine Hand, verbeugte sich und deutete einen Handkuss an. Generell lebt die ganze Stadt ihren Marathon, das spürt man nicht nur am Renntag auf der Strecke.

Aber zurück zum Lauf. Ich habe mein mentales Tief überwunden. Die Beine melden sich, aber ich gebe ihnen keine Chance sich auszuruhen. „Ihr kennt das eh. Heute ist’s nur ein Stückerl weiter“, rede ich mit mir selbst. Mit jedem Kilometer werde ich euphorischer. Kilometer 38. „Cuadro kilometros“ höre ich jemanden rufen. Nur noch vier. Yeah! Es sind so viele Zuschauer auf der Strecke, dass die Straßen immer enger werden. Sie jubeln, beklatschen und betrommeln uns.

Tour de France Feeling

Kilometer 40. Ich schaue nach vorne, halte Ausschau nach meinem Freund. Es ist der letzte Punkt, an dem er mich anfeuern will. „Komm!!!“ Ich schaue ihn an. Das gibt noch einmal Kraft. Die letzten zwei Kilometer erlebe ich wie in Trance. Es sind Menschenmassen um mich herum, die uns Läufern nur ein Spalier frei lassen. Es wird geschrien, gejubelt. Immer öfter höre ich meinen Namen rufen. So müssen sich die Tour de France Fahrer fühlen. Ja tatsächlich fällt mir ab Kilometer 40 die Tour de France ein, so nah kommen „unsere Fans” an uns heran. Obwohl die Straße sehr breit ist, haben wir nicht einmal zwei Meter, um uns durchzuquetschen. Ich kann schneller werden, noch die letzten Kraftreserven aus mir herausquetschen, habe aber Mühe zu überholen. Es ist einfach zu eng. Das kostet wiederum Kraft.

700 Meter. Ich sehe die Tafel. Hier ist sie. Die lang ersehnte Rampe bergab Richtung Ziel. „Wenn ich da mal bin“, hatte ich gestern noch zu meinem Freund gesagt, als wir vorbeigegangen sind. Jetzt ist es soweit. 600 Meter. Ich gebe Vollgas, kann nicht mehr. 500 Meter. „Was ist, wenn ich da jetzt zusammenbreche?“ Nix da. Weiter. 400 Meter. „Komm schon, einmal 400er in der Hauptallee.“ Ich motiviere mich, beiße alle Zähne zusammen. 300 Meter. Ich bin am Anschlag. Aber sowas von. 42 km. Die lang ersehnte Tafel. 200 Meter noch. Ich kann es kaum glauben. Lauf. Es geht den blauen Teppich entlang um die letzte Kurve. Da ist er: der Zielbogen. So nah und doch so fern. Er kommt näher. Dahinter sehe ich Läufer, die sich vornüberbeugen, es geschafft haben. Ich kann nicht mehr. Bitte lass den Bogen endlich da sein.

Meine Augen werden feucht. Ich bin überglücklich als mich mein Freund gut viereinhalb Stunden, nachdem wir uns verabschiedet haben, umarmt. Dieses Mal ist es mein Zieleinlauf, der mich zu Tränen rührt. Ich habe es tatsächlich geschafft: 3:45:09 und somit nach zwei Jahren eine neue persönliche Bestzeit. Erntedank. Es hat geklappt. Muchas gracias, Valencia!

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