Den nötigen Biss haben

3 Stunden und 20 Minuten. In dieser Zeit kann man mit dem Auto von Wien nach Salzburg fahren. Sich ein Fußballmatch mitsamt einer Schneckerl-Analyse (für Nicht-Ösis: Schneckerl ist Herbert Prohaska) anschauen und dabei höchstwahrscheinlich einschlafen (ich zumindest) oder schlicht und einfach 35 Kilometer durch die Gegend laufen. So geschehen am vergangenen Sonntag. Und am Sonntag davor. Da waren es sogar 5 Stunden und 22 Minuten. In dieser Zeit hätte ich von meiner Urlaubsdestination wieder zurück nach Wien fahren könnten. Stattdessen begab ich mich noch einmal auf die Spuren des Pitz Alpine Glacier Trail – genau genommen auf die Etappe, mit der ich bei meiner Anmeldung damals (die Geschichte dazu gibt’s hier) gehadert hatte. Soll ich, soll ich nicht. Ich hatte nicht. Dafür eben zwei Wochen später.

Auf dem Plan stand an diesem 19. August ein Longjog von 35 Kilometern. Nicht genug, dass 35 Kilometer soundso die Beine vor eine gewaltige Herausforderung stellen. Nein, die 35 Kilometer sollte ich irgendwie in meinen Bergurlaub einplanen. „Du kannst auch 35 Kilometer wandern. Es geht um die Stoßbelastung“, hatte mir mein Trainer mitgegeben. Haha, super lustig. Ich wandere gern. Aber nicht 35 km. Dann doch lieber laufen.

Der geplante Longjog bereitete mir zugegebenermaßen Kopfzerbrechen. Wie soll ich auf 1400 Metern Seehöhe, auf einem Terrain, das alles, nur nicht eben ist, 35 Kilometer laufen? Noch dazu hatte ich bereits die Tage zuvor nicht wirklich klein beigegeben, war den P15 voller Euphorie nochmals mit meiner besseren und schnelleren Hälfte gelaufen – zwar auf gemütlich, aber wer die Strecke kennt, weiß, dass es auch auf gemütlich kein einfaches Läufchen ist.

Was nur tun?

Aber zurück zum anstehenden Longi. Die Nacht davor wälzte ich mich unruhig im Bett hin und her. Überlegte verschiedene Varianten. Es gibt doch den Pitztaler Gletschermarathon im Juli. Warum also nicht diese Strecke laufen? Was in der Theorie einfach klingt, erweist sich abseits des regulären Marathons als schwierig. Gelaufen wird da nämlich auf der Landesstraße. Außerdem führt die Strecke immer bergab. Macht es wirklich Sinn einen wichtigen Trainingslauf zu machen, der 35 Kilometer ausschließlich bergab geht? Nein. Also Variante gekübelt. Weiterschlafen…

Als ich an dem besagten Sonntagmorgen aufwachte, fasste ich einen neuen, ganz anderen Entschluss: Schei** auf den Longjog. Ich begebe mich auf die Spuren des P26 (ab 2019 heißt er P30). „Taschachhaus Runde: 21 Kilometer, 990 Höhenmeter, 4 Stunden, Kategorie schwer“, las ich vor. Ohne lange zu zögern waren wir uns einig: Passt, das machen wir. Die 990 Höhenmeter entschädigen sicher für die restlichen 14 Kilometer oder? „Klar!“ Nichts anderes wollte ich hören. Also los ging’s.

Entgegen dem P15 war diese Runde noch einmal eine andere Kategorie. An Laufen war aufgrund des schwierigen Geländes auf der ersten Hälfte kaum zu denken. Ich bin auf solchem Terrain nicht sonderlich geübt, dementsprechend schwer fiel mir die Strecke. Das schlauchte und ich war ziemlich erledigt. Immer wieder tauchte im Kopf meine Vorgabe auf. „Sch** drauf. 35 km kann er selber machen”, dachte ich etwas grantig an meinen Trainer. Irgendwann erreichten wir dann auch das Taschachhaus. Nach einer Stärkung ging’s weiter. Während die ersten zwei Drittel der Strecke wirklich anspruchsvoll waren, fanden wir nun wieder ins Laufen zurück. Die Beine wurden wieder leichter.

Hm, soll ich, soll ich nicht? Wenn das so weitergeht, kann ich ja noch ein Stückchen anhängen. In meinen Gedanken war ich nun wieder beim ursprünglich geplanten 35 km Longjog. Er ließ mir keine Ruhe, denn ich wusste, dass er wichtig war. Mittlerweile waren es nur noch vier Kilometer bis Mandarfen, die 21 km waren also gleich geschafft. Zwei Kilometer davor fasste ich dann den Entschluss: „Mir geht’s so gut, ich laufe weiter zurück ins Hotel“, sagte ich zu meinem Freund.

Auf die Minute genau nach vier Stunden waren wir wieder beim Ausgangspunkt. „Wow, voll in der Zeit“, sagte ich ungläubig. Knapp elf Kilometer waren es noch ins Hotel. „Macht 32. Das wäre cool. Komm schon, zieh’s durch“, sagte ich mir in Gedanken. Und so lief ich los, die traumhafte Umgebung entschädigte für die brennenden Beine. Klar war ich müde, aber ich fühlte mich gut und mit jedem Kilometer der verstrich, wuchs meine Motivation. 32 sind’s beim Hotel. Drei mehr und es ist geschafft. Und tatsächlich. Anstatt beim Hotel die Stopptaste auf meiner Uhr zu drücken, lief ich einfach dran vorbei. Drei läppische Kilometer. Das ist nichts, redetet ich mir ein. Nach 5 und 22 Minuten war es dann soweit: Pieps. 35 Kilometer. Durchgezogen. Yeah!

Killersätze vorm Longjog

Eine Woche später, zurück in Wien. Anderer Ort, nicht weniger am Plan: 35 Kilometer. Zwar zwei Stunden kürzer, aber keineswegs weniger anstrengend sollten sie werden. Entgegen dem Pitztal hatte ich meine Route längst im Kopf. Das Wetter war nahezu perfekt. Nahezu, denn was wäre Wien ohne Wind…

Wenn ich bei solchen Läufen den Startknopf drücke, darf ich an alles denken, nur nicht: Erst in rund dreieinhalb Stunden kannst du den Knopf wieder drücken. Ich laufe immer nach Kilometerangaben, nicht nach Zeit. „Erst ein Kilometer“ oder „noch 34 Kilometer“. Tauchen Sätze wie diese zu Beginn auf, ist meine allererste Reaktion: weg damit! Die ganze Strecke vor Augen ist ein harter Brocken. Stattdessen unterteile ich sie mir in sozusagen kopfverträgliche, appetitliche Häppchen. Meine Route am vergangenen Sonntag, dem 26. August: zum ersten Brunnen auf der Donauinsel (9 km) – Nordspitze Donauinsel (15 km) – zurück zum Brunnen (21 km) – Übergang Alte Donau mit drittem Trinkstopp (27 km) – Alte Donau eine Richtung (31 km) – zurück zur U-Bahn und damit FINISH (35 km). Das hilft mir in der Regel enorm. So taste ich mich Schritt für Schritt immer näher ans Ziel heran.

Anfangs klappte dies auch noch ganz gut. Doch schon auf dem Weg zum zweiten Etappenziel merkte ich: Das ist nicht so ganz mein Tag. Tja, was soll’s. Kopf aus und durch. Also weiter gen Norden, in der Hoffnung, dass sich bei der Wende nach 15 Kilometern der Gegenwind in einen helfenden Anschieber von hinten verwandelt und den müden Beinen eine unbeschwerte Leichtigkeit einhaucht. Denkste. Es gibt Tage, an denen kommt der Wind von überall, nur nie direkt von hinten. Also weiter. Die Beine wurden schwer und immer schwerer. Die Urlaubswoche im Pitztal hatte ihren Spuren hinterlassen. Kilometer- und höhenmetermäßig. Dazu kam ein Intervalltraining zwei Tage zuvor. Frisch ist anders. Entgegen dem subjektiven Empfinden war das Pace/Pulsverhältnis gut. Ich versuchte mich von meinen schweren Beinen abzulenken. Ließ die Berge nochmals Revue passieren. Die Natur, die frische Luft. Doch es klappte nicht so richtig. Nach 25 Kilometern musste schließlich Ablenkung her: Ich stopfte mir die Ohrstöpsel meines IPods in die Ohren. Eine Zeit lang bin ich so gut wie nur mit Musik gelaufen. Derzeit laufe ich so gut wie nie mit Musik. Weil ich wusste, dass es heute hart werden könnte, hatte ich ihn dennoch dabei.

Mittlerweile hatte ich den Übergang zur Alten Donau erreicht. „Acht Kilometer noch. Vier hin und vier zurück. Es ist nicht mehr weit“, sagte ich mir in Gedanken. Meine Beine liefen einfach. Klar schmerzten sie. Ich fühlte mich mittlerweile wie ferngesteuert. „Vier Kilometer noch. Das ist nichts“, redete ich mir ein. Ich wurde ein bisschen schneller, wollte endlich fertig sein. Und dann war es soweit: Nach 3:20:43 drückte ich die Stopptaste. 35 Kilometer. Check.

Wie in Trance

Im ersten Moment, wenn ich nach so einem langen Lauf stehenbleibe, fühle ich mich wie in Trance. Währenddessen war ich drei Mal kurz zum Trinken stehengeblieben. Eine Minute und 15 Sekunden waren das insgesamt. Ansonsten auf den 35 Kilometern null Stopps. Generell Regel statt Ausnahme, im Wettkampf gibt’s schließlich auch keine Pausen. Erholung gibt’s danach, nicht mittendrin.

Worauf ich eigentlich hinaus will: Trainiert man für ein bestimmtes Ziel, erfordert das einen enormen Willen. Ich weiß heute, dass ich 35 Kilometer laufen kann. Daher war an beiden Tagen – sowohl im Pitztal, als auch in Wien – aufgeben nie eine Option. Auch wenn die Beine schwer sind, nach jedem Tief kommt ein Hoch. Meine Tiefs sind meist der Anfang (siehe Killersätze) und zwischen Kilometer 20 bis 25. Da ist es noch zu weit, um sich einzureden, es ist gleich geschafft. Je näher ich dem Ziel komme, umso mehr beflügelt mich das, sodass ich auf den letzten Kilometern meist noch ungeahnte Kräfte mobilisieren kann – bis hin zum 10er Tempo am allerletzten Kilometer ist auch auf so langen Läufen alles möglich. Obwohl die Beine schwer sind, habe ich in dem Moment das Gefühl zu fliegen.

Ich habe meine Strategien entwickelt, um mit Tiefs während solch langen Läufen umgehen zu können. Als „Schlachtplan“ bezeichnet das Andrea Engleder, Sportpsychologin in eigener Praxis und am Zentrum für Sportwissenschaft Auf der Schmelz in Wien. „Wenn das und das eintritt, werde ich das und das tun. Wer sich konkret auf das was er tut vorbereitet, kann mir schwierigen Situationen leichter umgehen.“ In erster Linie brauche das Gehirn eine Beschäftigung, um von den schweren Beinen loszukommen. „Die Chance liegt in der Vorbereitung: was kann ich in dem Moment tun? Man kann beispielsweise Nummerntafeln querrechnen oder Leute zählen. Dadurch gelingt es, sich selbst auszutricksen. Das Gehirn ist plötzlich mit etwas ganz anderem beschäftigt“, sagt Engleder. Bei mir ist Strategie Nummer Eins: Rechnen in allen möglichen Varianten. Strecke achteln, nochmals vierteln, nochmals teilen. Oder 100-Meter-Markierungen auf der Donauinsel zählen…

Ablenkung ist nicht alles

Ablenkung lautet also das Zauberwort? „Das kann natürlich nur gelingen, wenn die körperlichen Fähigkeiten gegeben sind“, betont die Sportpsychologin. Auf Anhieb 35 Kilometer laufen zu wollen, wird auch mit der besten Ablenkung nicht gehen. Man muss sich an die Distanzen herantasten und langsam steigern. Doch man muss kein Marathonläufer sein, um einen Schlachtplan zu entwickeln. Es geht immer um die eigenen Fähigkeiten, Ziele und damit auch die individuellen Grenzen, die es zu verschieben gilt. „Man muss für sich selbst herausfinden, was zu einem passt. Viele wollen einfach nur ein bisschen joggen. Andere setzen sich ein Ziel, auf das sie hinarbeiten. Weil es Spaß macht. Die Frage nach dem Sinn ist dann, wenn es einmal schwer wird, sehr leicht zu beantworten“, sagt Engleder.

Damit bin ich beim wichtigsten Motiv überhaupt: das Ziel. Die amerikanische Neurowissenschaftlerin und Psychologin Angela Duckworth hat die These aufgestellt, dass Ausdauer gepaart mit Leidenschaft der Schlüssel zum Erfolg ist. Duckworth nennt es Grit und hat mit ihrem Buch dazu einen Bestseller gelandet. Grit stammt aus dem Englischen und bedeutet Durchhalte- oder Stehvermögen bzw. den nötigen Biss haben.

Doch wie gelingt es, sich hartnäckig an etwas festzubeißen? Mit Ablenkung ist es meiner Meinung nach mit Sicherheit nicht getan. Wie Duckworth sagt, ist Leidenschaft der Schlüssel zum Erfolg. Man muss für die Sache brennen. Dann verwandelt sich der hartnäckige Biss am Ende in einen genussvollen und man weiß, wofür man es getan hat.

Bleibt noch die Frage, wozu diese 35 Kilometer eigentlich? „Mach‘s dir im Training schwer, dann wird es im Wettkampf leichter“, hat Emil Zátopek gesagt. Tja, unverhofft kommt eben doch oft und schneller als man denkt, steht man da, wo man es sich am allerallerwenigsten gedacht hätte. Wo genau? Fortsetzung folgt..

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